Deutschland hat gewählt. Die „Ära Merkel“ geht zuende. Eine Klimawahl hätte es werden sollen. Wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut war es das wohl nicht. Zuerst war ich traurig und auch
wütend. Es hat doch wohl jeder mitbekommen, dass die nächsten Jahre entscheidend sind, um massive Verschlechterungen der (Über)Lebensbedingungen der Menschheit abzuwenden. Und da wählen so viele
Menschen Parteien, die sich noch nicht mal an ein Tempolimit rantrauen oder einen Kohleausstieg forcieren, der die gesetzten Klimaziele von vorne herein unmöglich macht. Am Wahlabend, nachdem die
ersten Zahlen da waren, bin ich erstmal alleine im Dunkeln durch den Wald gegangen. Das passte gut. Und da war mir klar, dass es wirklich so richtig schlimm kommen könnte. Dass
große Teile der Welt unbewohnbar werden, dass es zu unvorstellbaren Flüchtlingselend und Kriegen um Wasser und Land kommt. Dass Ökosysteme überall auf der Welt kollabieren. Dass wir hungern
werden. Es beruhigte mich nur wenig, dass ich das meiste davon nicht mehr erleben werde.
Jetzt, nach dem ersten Frust beginne ich schon wieder den Glauben an Wunder in mir zur nähren. Ich brauche das. Ich hätschele diese Wunder und ziehe sie mit Liebe auf. Vielleicht kann man die
echten Wunder ja so tatsächlich aus der Reserve locken. So ähnlich wie beim Beten. Ich gestatte mir die wundervollen Vorstellungen, dass Politiker parteiübergreifend von einer
Aufbruchstimmung und Ernsthaftigkeit mitgerissen werden. Dass das Wohl unseres Landes vor Parteikalkül steht. Und so weiter. Und dann beruhige ich mich, dass die nächste deutsche Regierung ja
nicht wirklich über den Untergang der Menschheit entscheidet wie das manchmal überspitzt dargestellt wir. Wir sind ja nicht die Welt. Und schon seit es „Jute statt Plastik“ hieß ist es „fünf vor
zwölf“ – da wird das ja wohl noch ein bisschen so bleiben.
Jetzt ist die Zeit der Erneuerung. Und die hat ihre eigene Sprache: leidenschaftlich, kreativ, offen. Ich glaube, dass ein Erneuerer Menschen anstoßen kann, ebenfalls einer zu werden. Wenn es
genügend Erneuerer gibt kommt es zu einem Kipppunkt in der Gesellschaft. Das Wissen um den Klimawandel verleitet nur wenig Menschen dazu, ihre Flugreisen aufzugeben oder auf Billigfleisch zu
verzichten. Wenn es aber uncool wird zu fliegen dann sieht es wohl ganz anders aus. Wenn man sich beim Nachbarn keine Absolution für seinen SUV mehr holen kann und man plötzlich als
Egoist dasteht, dann wird es ernst. Wenn der Wandel in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, dann verselbständigt sich eine Transformation, dann geht alles ganz schnell. Das ist
jedenfalls meine Hoffnung.
Leider setzte die Regierungspolitik der letzten Jahre nicht darauf. Im Gegenteil, sie bespielte die Zerrissenheit der Bürger zwischen „Man sollte eigentlich“ und „aber man macht es ja doch nicht“. Sie hat zwar immer wieder betont, wie wichtig eine Klimawende ist, gleichzeitig aber den Ausbau der regenerativen Energien aktiv gedeckelt und erschwert. Und dann macht man es wie Trump, man ignoriert die Widersprüche und behauptet einfach unbeirrt etwas anderes. Bekenntnisse und tatsächliches Handeln sind in so eklatantem Widerspruch, dass man sich fragen muss, wie Politiker damit durchkommen. Eigentlich müsste man wie der Youtube-Influencer Rezo fragen „Haben die Lack gesoffen?“ Nee, haben sie nicht. Das funktioniert, weil beides – die Bekenntnisse und das Nichthandeln – die Menschen beruhigt. Es ist als würde man auf ein Nutellaglas das Etikett „Ausgewogene Vollwertkost“ kleben. Da greift man mit gutem Gewissen zu und hinterher ist man froh darüber, dass es so vertraut schmeckt. Irgendwie ist einem schon klar, dass Inhalt und Etikett nicht zusammenpassen, aber es lebt sich halt gut damit, das lässt man gerne auf sich beruhen.
Oder „Klimapolitik ohne Verbote“. Was für ein offensichtlicher Blödsinn. Wenn ein Politiker in episch überhöhter Denkerpose mir von einem Plakat so etwas verkündet könnte ich kotzen. Die
eigentliche Aussage ist doch: freie Marktwirtschaft geht vor Klimaschutz. Da ist wieder das Nutellaglas mit dem falschen Etikett. Und klar, die Typen von den Plakaten wissen das. Was wäre wohl
aus dem Ozonloch geworden, wenn man damals ohne Verbote auf die Selbstregulationskräfte der Wirtschaft vertraut hätte? Wir hätten wahrscheinlich alle Hautkrebs. Die große Koalition war eine
Politik für die Ängstlichen und im Gewohnten verharrenden mit hübschem Etikett. Erneuerer raufen sich die Haare und möchten zum Himmel schreien. Mit welchem Recht können Politiker Bürger dazu
aufrufen „auch mal auf das Auto zu verzichten“, wenn sie selbst eine solche Unaufrichtigkeit vorleben? Eigentlich ist ihr Handeln eher die perfekte Relativierung für die vielen kleinen
Umweltsünden ihrer Bürger.
Normalität. Unsere Wirtschaft ist, wenn man sie in einen größeren Zeitraum einordnet alles andere als normal. Eher eine Explosion. An Wissen, Produktivkraft, Erfindungen, Ressourcenverbrauch und
vielem mehr. Wir rasen mit hoher Drehzahl auf einer Autobahn vorwärts. Es ist als wäre jeder einzelne von uns quasi auf dem Rücksitz eines Autos geboren und hätte sein ganzes
Leben nichts anderes gekannt als eben die Autobahn. Der Ausnahmezustand als Normalität. Dann mag es Panik auslösen, wenn es heißt: die nächste Ausfahrt gehts runter. Und dann hört es sich gut an,
wenn jemand sagt „Wir können ja ein wenig abfahren und gleichzeitig ein wenig auf der Autobahn bleiben“. Aber mal ehrlich: wir leben doch gar nicht in einer gemütlichen Welt. Landwirte bringen
sich um, weil die (zu) freie Marktwirtschaft Ihnen keine Luft zum Leben lässt. Im Niedriglohnsektor verkaufen Menschen ihre Seele zum Ramschpreis. Die „Erfolgreichen“ hetzen atemlos an ihrem
Leben vorbei. Unserer Freiheit ist zu sehr die Freiheit des Stärkeren. Und selbst der ist gefangen in einem ritualisierten, künstlich überhöhten Existenzkampf. Ich muss allerdings auch zugeben,
dass uns der rasante Fortschritt viel gebracht hat. Das wird mir immer dann klar, wenn ich im bequemen Zahnarztstuhl sitze und ohne Schmerzen so beeindruckend gut behandelt werde. Niemand hungert
bei uns, wir können mit der ganzen Welt kommunizieren. Toll! Und weil wir tatsächlich so gut vorangekommen sind dürfen wir jetzt endlich abfahren von der Autobahn.
Ich träume von einer Gesellschaft von Erneuerern, gemeinsam unterwegs zu einem guten Ort zum Leben, einer neuen Stabilität. Und dort kommt dann wieder eine Zeit der Bewahrer. Den Geist der
Erneuerung habe ich im Wahlkampf kaum gespürt. Das war alles so dröge, wenn schon nicht vernünftig dann zumindest in fürchterlich vernünftigem Tonfall. Mit innerem Anzug
sozusagen. Und zwar von allen etablierten Parteien. Wie erfrischend war da Rezo. Inhaltlich nicht viel Neues für mich. Aber wie anders! Der muss sich nicht hinter einer trockenen Professionalität
verstecken. Da ist der Mensch sichtbar. Der tritt als Erneuerer auf. Die Botschaften müssen sozusagen die Geist-Herz-Schranke überwinden. Jemand hat mal gesagt, dass man Menschen nur anzünden
kann, wenn man selbst brennt. Das muss ja gar nicht laut und schrill sein. Aber echt.
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