Dieser ewige Hype um Achtsamkeit. Was in Glücksmagazinen, in unzähligen Büchern und Seminaren unter dieser Überschrift geboten wird, ist oft eher eine Flucht ins Kleingeblümte. Ein
Einlullen im Harmlosen. „Alles ist gut“. Für mich hat das etwas Bedrohliches. Da mag ich von meiner Kindheit vorbelastet sein. Es gab dort einen starken Fokus auf das Nette, Niedliche.
Existentielle Fragen wurden an eine ebenfalls sehr nette Religion delegiert oder schlicht ausgeblendet. Das Leben ist nicht nett. Es ist groß. Die Flucht ins Harmlose wird heute von einer ganzen
Dienstleistungsindustrie bedient. Aber es gibt dabei natürlich auch viel Aufrichtiges und gut gemeintes. Zum Beispiel dieser Tipp: Fülle eine Hosentasche mit Bohnen. Lege dann in jedem
Glücksmoment eine Bohne in die andere Hosentasche und bestaune dann am Ende des Tages wie viel Schönes du erlebt hast. Soweit so schön. Aber wenn Sie eben doch gerade das Gefühl hatten, dass das
Leben eine Zumutung ist? Zeigen Ihnen die Bohnen dann, dass Sie im Grunde nur undankbar sind? Ich will nicht sagen, dass Ihr Leben durch eine andere Sichtweise nicht kolossal verändert werden
kann. Nur erhält man so eine andere Sichtweise nicht übers Bohnenzählen. Wohl aber vertieft man so das Gefühl, dass die eigene Wahrnehmung nicht gerechtfertigt ist. Eine andere
Übung: Lächeln Sie sich jeden morgen vor dem Spiegel an und sagen Sie „Dies ist ein schöner Tag“. Aber warum muss mein Leben eigentlich immer schön sein? Warum habe ich denn immer glücklich zu
sein? Und wenn ich unglücklich bin, darf ich dann nicht auch fluchen und jammern, darf ich mein Unglück nicht durchleben? Sollen wir alle die Mundwinkel oben einklinken und die
hässlichen Lebensumstände einfach weglächeln? Keine verlockende Vorstellung. „Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag“. Das ist furchtbarer Blödsinn, auch wenn Charlie Chaplin das gesagt hat.
Ich geh davon aus, dass kein Tag, an dem wir leben, verloren ist. Was wäre wohl mit Hiob passiert, wenn Gott ihm einen klassischen Glücksratgeber und eine Tüte Bohnen geschenkt
hätte? Das wäre mal ein interessantes Gedankenexperiment.
Ein berüchtigtes Lied meiner Kindheit lautet: „Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag ... Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann...“ Der Soundtrack
zum Leben als Blumenwiese. Sie dürfen nicht nur, Sie SOLLEN danke sagen. Immer. Die Welt ist IMMER schön, voll mit Kinderlachen und selbstgebackenem Kuchen. Eine begehbare
"Landliebe"-Ausgabe sozusagen. Man muss eben nur "richtig" schauen. Und wenn die Kassiererin nicht lächelt, dann lächeln Sie sie an. Sie haben es in der Hand, Ihre Welt zu einem Ort der Freude zu
machen. Indem Sie Ihre Einstellung ändern. Sie finden Ihr Leben scheiße? Dann achten Sie doch auf die kleinen Wunder des Alltags. Und atmen Sie achtsam. Bei dem Ärger über den Chef hätten Sie
doch glatt den wunderbaren Schmetterling übersehen! Und leben Sie immer in der Gegenwart. Nur die zählt. Aber mal im Ernst, was ist denn dagegen einzuwenden, die Gedanken
schweifen zu lassen, sich Vergangenheit und Zukunft hinzugeben? Klar ist es wertvoll, wenn ich mich einer Sache ganz widme, ganz im Augenblick aufgehe. Aber kann ich das „machen“? Und ist es
immer wünschenswert? Wenn ich zum Beispiel beim Joggen in meinen Körper hineinfühle und mir klar wird wie anstrengend es gerade ist, den Berg hochzulaufen, dann blockiert mich das, da kann
ich gleich stehen bleiben. Wenn ich aber an das nächste Projekt, ein Lied oder einen Menschen denke, laufe ich mit federndem Schritt wie von selbst.
Ich gebe jetzt mal diese These zum Besten: Die „Flucht ins Kleingeblümte“ begünstigt miese Arbeitsverhältnisse (oder auch Partnerschaften). Ein Ventil, das es erleichtert, dass alles so bleibt wie es ist. Man kann sich auflehnen oder Bohnen zählen. Man kann mit viel Kraftaufwand versuchen, das eigene Leben selbst zu gestalten oder man kann trotzdem „danke“ sagen. Wer geduckt ist, der kann zumindest besser an Blumen schnuppern. Wer im eigenen Leben kaum noch Wirkungsmacht verspürt, der mag sich mit der Überhöhung des Harmlosen und Niedlichen trösten. Das mag ja vorübergehend tatsächlich helfen. Aber ist das auf Dauer gesund? Das Leben als selbstgehäkelter Kissenschoner? Wer sich im Harmlosen einrichtet, der macht sich selbst viel kleiner als er ist. Und man kann Menschen mit weichen Kissen ersticken.
Ich habe mal vor ein paar Jahren an einem Seminar für Gewaltfreie Kommunikation teilgenommen. An sich ist das ein super Konzept. Ich lerne da, wie ich meine Bedürfnisse so kommunizieren kann,
dass sich mein Gegenüber als Mensch und mit seinem anderen Standpunkt respektiert fühlt. Achtsam eben. Die große Gefahr bei so einer Technik ist aber, dass das Vertrauen in die eigene Intuition
zugunsten eines Konzeptes aufgegeben wird. Im Extremfall zerre ich jedes Wort, jede Seelenregung vor mein Bewusstsein, und hinterfrage kritisch, wie ich „richtig“ damit umgehe. Es entsteht eine
Art Bewusstseinsfaschismus. Menschen, die davon befallen sind wirken oft gequält und „unbewohnt“. Und toxisch brav. Ich bin da selbst anfällig und lasse die Finger von so
etwas.
Gerade habe ich vor meinem Laptop gegessen! Habe gedankenverloren ein Müsli in mich reingeschoben. Grob unachtsam war das. Man sollte dem Essen Respekt und Raum geben, sich ihm ganz widmen. Aber:
who cares? Ich glaube, das dauernde Abgleichen aller Entscheidungen mit einem Konzept vom „richtigen“ Leben macht uns vor allem unglücklich. Wir sind doch nicht unser eigenes
Erziehungsobjekt. Bei aller Polemik weiß ich sehr wohl um den Wert der „kleinen Dinge“, auch um den Wert des „Innehaltens“. Ich habe nur ein Problem damit, das programmatisch einzusetzen, um mich
selbst auf die richtige Spur zu bringen. Bei diesem ganzen Bemühen um ein „richtiges“ Leben fehlt mir die Demut vor der menschlichen Natur. Die ist ja viel größer als unsere Einsichten. Und
sie macht gerne ihr eigenes Ding. Ziemlich schräge Dinge sogar. Im übrigen finde ich es tatsächlich eine gute Sache, Kassiererinnen anzulächeln.
Achtsamkeit ist in Wirklichkeit etwas sehr Großes. Wer achtsam ist, der ist für mich angekommen in der Welt, vielleicht nach einer persönlichen Heldenreise mit vielen Umwegen. Achtsamkeit ist ein Seelen- und Geisteszustand, den man nicht einfach mal so erlernen kann. Ich persönlich habe da noch einen weiten Weg vor mir. Falls ich ihn denn gehe. Musss man ja nicht. Vor allem ist Achtsamkeit nichts Harmloses, Nettes. Mein erstes Lied habe ich diesem Thema gewidmet.
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Andreas Weber (Freitag, 05 Februar 2021 17:37)
Lieber Autor !
Dass Achtsamkeit etwas sehr Großes ist, sehe ich auch so. Und es lohnt sich auch, sich damit auseinander zu setzen und diesem Thema aktiv nachzugehen, so ist zumindest meine Erfahrung. "Der Lohn", der mich letztendlich motiviert, ist tatsächlich ein Zustand, ein Erleben, dass ich mit "Bei mir ankommen" benenne. Auch so ein Begriff, der vielleicht durch vielfache Verwendung schon irgendwie ausgeleiert klingt. Mir fällt aber auch keine andere Formulierung ein. Mit dem Begriff "Achtsamkeit" ist es wahrscheinlich ähnlich. Dadurch, dass er ständig in aller Munde ist, wird es nicht unbedingt besser. Diejenigen, die tatsächlich "Achtsamkeit" üben, machen vermutlich nicht viel Worte darum, sondern tun es eben. Die, die viel darüber reden, wollen oft genug etwas verkaufen, ein Ratgeberbuch, ein Seminar, Coachingstunden etc.
Ansonsten habe ich den Eindruck, dass der Autor sich sehr vor Konzepten fürchtet, denen er unterworfen werden könnte und die seine innere Freiheit beeinträchtigen könnten. Die Frage "who cares" ist nur individuell zu beantworten und ich bin bereit, sie mir zu stellen, also "worum möchte ich mich denn in meinem Leben kümmern ?" Mitmenschen, die sich um nichts kümmern, finde ich ziemlich unangenehm. Gewaltfreie Kommunikation und andere Kommunikationsansätze sind für mich eine Art Landkarten zur Orientierung. Wenn ich willens bin, mit Menschen respektvoll zu kommunizieren, kann ich sie benutzen. Wenn es nicht von Herzen kommt, als wirkliches, inneres Bedürfnis fühlt es sich oft "unecht" an, oberlehrerhaft, vordergründig, selbstgefällig.