Wieder gehe ich spazieren. Diesmal in den Wald, oben auf dem Gissübelberg. Es ist ein sehr warmer Apriltag und staubtrocken. Vor wenigen Tagen konnte ich das noch ganz unschuldig genießen, jetzt hat mich ein dystopisches Grundgefühl eingeholt. Es ist, als könnte ich die Klimaveränderung körperlich spüren. Zusammen mit der Corona-Pandemie fühlt sich das seltsam unwirklich an. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute über Kunst nachzudenken. Aber was ist denn Kunst angesichts dieser existenziellen Themen? Ein unnützes Menschenspielzeug? Ein eitler Zeitvertreib? Eine überhöhte Realitätsflucht? Ja und nein.
Es ist schwer, das Phänomen Kunst einzugrenzen ohne auszugrenzen. Mir dreht sich da schnell der Kopf. Ich kenne mich in Kunstgeschichte und
Kunsttheorie nicht wirklich gut aus. Auf der anderen Seite spüre ich seit vielen Jahren eine große Befremdung, wenn ich mir den etablierten Kunstbetrieb anschaue. Um diese Befremdung in
Worte fassen zu können, möchte ich zwei Funktionen von Kunst gegenüberstellen. Die des Fetischs und die des Mediums.
Kunst als Fetisch. Hier ist Kunst ein leeres Gefäß, das von außen mit Bedeutung gefüllt wird. Kunst als magischer Kult. Die einzige
Qualifikation, die ein Kunstwerk erfüllen muss, ist, als Projektionsfläche dienen zu können. Ein Kunstwerk heißt „O.T.“. Es zeigt drei senkrechte blaue Streifen, hat ein Format von 2 x 2 Metern
und hängt an einer verschwenderisch großen rein weißen Wand in einem riesigen Saal. Im opulenten Katalog wird es üppig mit Worten bedacht. Es ist mit Bedeutung geradezu vollgepumpt. Eine Aura von
Heiligkeit scheint von ihm auszugehen. Die Preiskennzeichnung bestätigt das. Und gleichzeitig ist sein Inhalt vollkommen belanglos. Er muss belanglos sein. Nur so kann das Bild frei mit Status,
mit magischer Energie aufgeladen werden.
Der Betrachter kann nicht eigenmächtig und subjektiv die Relevanz eines Kunstwerks bestimmen. Er nimmt seine Bedeutung nur entgegen wie eine Hostie. Im
Grunde ist er vollkommen entmündigt. Eine Deutungshierarchie aus hochdekorierten Akademikern, Sammlern und Kunsthändlern hat die (V)erklärungshoheit. Und wenn die Bedeutung mit Worten vermittelt
wird, dann in einer Sprache, die so abgekoppelt ist von der Alltagswelt der meisten Kunstbetrachter, das sie wirkt wie einst Latein als Gottesdienstsprache. Sie entrückt das Kunstwerk, den
Künstler und auch die Kunstdeuter vom Betrachter. Wir nehmen demutsvoll entgegen, was die magischen Hohepriester des Kunstbetriebs uns vorlegen. Natürlich ist die Deutungshoheit im Kunstbetrieb
auch mit ganz realer wirtschaftlicher Macht gekoppelt. Der Kunstbetrieb als institutionalisierte Kategorienverwechslung von Magie und Kunst. Wie traurig, wie dekadent, wie belanglos.
Kunst als Medium. John Cage sagte einmal: „Die Aufgabe der Kunst ist es nicht, eigene
Ideen oder Gefühle zu vermitteln, sondern die Natur in ihrer Funktionsweise nachzuahmen“. Dem stimme ich zu.
Ein Gemälde oder auch eine Melodie kann so etwas wie eine Tiefenerinnerung bewirken. Ein Wiedererkennen weit jenseits der Wörter. „Funktionsweise der
Natur“ ist für mich so etwas wie „kosmische Grammatik“. Das klingt vielleicht esoterisch. Für mich ist es eine ganz fundamentale Ebene der Realität. Ich glaube, wir alles kennen diese Grammatik.
Aber auf eine Weise, die dem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Kunst ist eine Möglichkeit die Prinzipien dieser Grammatik sichtbar zu machen. Dieses Tiefenerinnern ist etwas Nährendes und
Bewegendes. Es muss ja nicht immer die ganz große Ergriffenheit sein. Manchmal ist es vielleicht eine subtile Erheiterung, auch eine Art von Erkennen. Ich glaube, ein Kunstwerk muss nicht
verstanden, aber doch auf einer tieferen Ebene erkannt werden können. Es muss ohne Katalogtext aus sich heraus sprechen können.
Wenn ich mir heute die Internetpräsenzen erfolgreicher internationaler Galerien ansehe, dann erscheinen sie mir erstaunlich homogen. Kunst ist hier vor
allem laut, ungestüm, impulsiv, extravertiert, grenzensprengend, politisch. Das ist natürlich auch vollkommen legitim. Aber was mir fehlt ist Kunst die poetisch, erzählend, introvertiert, schön,
behutsam, romantisch, aus der Zeit gefallen ist. Für mich riecht das nach Ideologie. Und diese Ideologie hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig. Das liegt sicher auch daran, dass
bildende Kunst so sehr an den akademischen Betrieb gekoppelt wird. Ein bildender Künstler muss im Regelfall erst einmal ein Kunststudium als Sozialisationsinstanz durchlaufen haben. Er wird nach
dem nur scheinbar freien akademischen Kunstbegriff ausgewählt, gemessen und bewertet. Und wozu eigentlich all der intellektuelle Überbau? Erfordert die Fähigkeit des Künstlers, subtile
Zusammenhänge zu erkennen und sie materiell erfahrbar zu machen etwa intellektuelle Konzepte? Und muss ein Kunstwerk eigentlich typisch für seine Zeit sein? Warum darf es nicht einfach typisch
für seinen Erschaffer sein?
Ich wünsche mir eine Kunst, die sich von den Institutionen emanzipiert. Ich wünsche mir einen Kunstbetrieb der die Vielfalt der
Künstler und der Kunstbetrachter achtet und abbildet. Vor allem aber wünsche ich mir Kunstliebhaber, die sich auf das Kunstwerk einlassen und nicht auf seine Präsentation. Ist Kunst wichtig? Ich
finde ja, denn sie kann uns mit Bereichen weit jenseits unseres Egos verbinden. Sie kann uns trösten, inspirieren, erheitern, berühren und erstaunen. Und sie hilft uns, die Größe unseres Geistes
auszuloten. Das ist kein Luxus.
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Andreas Weber (Sonntag, 26 April 2020 08:32)
In der Tat sind Kunstbetrachtungen -über ihr Wesen, über Sinn und Unsinn, Bedeutung und Funktion-ein weites Feld. "Einzugrenzen ohne auszugrenzen" ist die passende Formulierung des Autors. Die Aussage von John Cage über die Aufgabe der Kunst reizt mich zum Widerspruch. Verschiedene Künstler haben darauf hingewiesen, dass sie nicht bereit sind "Aufgaben" zu erfüllen, meiner Meinung nach zu Recht. Eines der "Top" Stichworte für mich in Bezug auf Kunst ist "Freiheit". Das kann auch bedeuten "Zweck-Frei" zu sein. Warum sollte ein Künstler nicht seine "eigenen Ideen und Gefühle" vermitteln ? Der andere, von John Cage genannte Aspekt : "die Funktionsweise der Natur nachzuahmen" gilt demnach für mich genauso. Ich störe mich an dem Entweder-Oder. Auch wenn der Satz von dem berühmten John Cage stammt. Insgesamt gefällt mir der Artikel gut und ich nehme ihn als Ermunterung für mich und alle Kunstliebhaber, sich immer wieder selber und eigenständig mit den Themen auseinandersetzen, sich ein eigenes Bild zu machen und der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Auf Oberlehrer-Akademiker, die mir erklären, was gute oder schlechte Kunst ist, kann ich verzichten. Es liegt an uns, nicht "nachzuplappern", sondern uns selbst in die Materie hinein zu begeben.