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Die zwei Gesichter der Natur

Eigentlich wollte ich über Corona schreiben. Über das Leben am Beginn der großen Krise. Schließlich bewegt mich dieses Thema gerade am meisten. Aber das wird nichts. Ein anderes Thema hat sich vorgedrängt. Vor wenigen Tagen spazierte ich im schönsten Frühlingswetter durch die Streuobstwiesen bei Birkmannsweiler und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Alles ist in diesen Tagen durchtränkt von der Tragik und der Unsicherheit der Pandemie. Der Alltag hat eine neue, existenzielle Dimension bekommen. Und ich betrachte die Fragen des Lebens anders, vielleicht mit mehr Tiefenschärfe. Ich dachte über das Virus selbst nach. Dieser Genschnipsel scheint etwas zutiefst Sinnloses und Zufälliges zu sein. Und ich glaube, genauso ist es. Das Virus will nichts, er ist einfach da, moralisch indifferent wie eine Schneeflocke. Aber so ist Natur eben: kalt und seelenlos, dem menschlichen Leiden gegenüber neutral. Offensichtlich ist das so. Und gleichzeitig ist es ganz anders. Darüber möchte ich jetzt schreiben. Hier ist eine kleine Auflistung von Erlebnissen, in denen mir Natur alles andere als leer oder neutral begegnet.

Wenn ich mich in einen Menschen verliebe.
Wenn ich nach Hause komme, und mein Hund dreht fast durch vor Freude.
Wenn ich früh morgens im Zelt aufwache und dem Gesang der Vögel zuhöre.
Wenn ich einen Menschen in den Tod begleite.
Wenn ich in eine frisch gegrillte Bratwurst beiße.
Wenn ich mit einem Kind in einem Pappkarton zum Mond fliege.

All diese Erfahrungen sind Erfahrungen von Natur. Mein Erleben ist ja nichts anderes als Natur. Schließlich ist mein Gehirn kein Computer, sondern ein Organ. Aber sind Rührung, Verzweiflung, Geborgenheit und  Mitgefühl  mehr als Metaphänomene unseres Gehirns? Hat das was mit dem da draußen zu tun? Oder sind wir nur ein kleiner Materiezirkus, der in totaler Einsamkeit sein unsinniges Programm spielt?

Wir erleben uns als verbunden mit der Welt. Wir können gar nicht anders. Wenn ich verliebt bin dann ist mir die Beziehung zu diesem Menschen unendlich kostbar. Alles ist erfüllt von einem Reichtum an Sinn und Schönheit. Betrachte ich dieses Erleben als Film, dann erscheinen dort möglicherweise Untertitel, die etwas anderes erzählen: „Das sind die Hormone. Die Phase des Verliebtseins ist eine Art freundlicher Wahn und Drogenrausch, der sich irgendwann verflüchtigt“. Ich nehme diese Untertitel wahr und halte sie für richtig, ich bin ja aufgeklärt. Und doch erlebe ich etwas ganz anderes. Die Verzauberung der Welt ist meine Realität – nicht die trockene Erkenntnis aus dem Lehrbuch. Oder der Gesang eines Vogels, den ich genieße. Auch hier wieder erscheinen Untertitel: „Das Tier markiert sein Revier. Es geht um Selektion und die Weitergabe der Gene“. Was soll‘s? Der Gesang berührt meine Seele. DAS ist meine Realität.

 

Wenn wir (un)glücklich, verliebt oder zu Tränen gerührt sind, empfinden wir die Qualität unserer Gefühle als eine Qualität der Welt. Ist das eine Illusion? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Natur (ich könnte auch sagen die Welt, das Universum) zwei Gesichter hat die wir einfach nicht unter einen Hut bringen können. Sie scheinen sich gegenseitig sogar auszuschließen. Auch ich habe da nicht wirklich einen Reim drauf. Das eine Gesicht ist sehr einfach zu beschreiben. Es ist die offensichtliche Welt, die sich analysieren und messen lässt. Zumindest bei uns im Westen ist es die „offizielle“ Welt. Ich nenne sie hier prosaisch „Basiswelt“. Es ist das, worauf sich die Wissenschaftler beziehen. Sie haben die Deutungshoheit, sie sagen uns wie es wirklich ist. Das verliebte Paar und das Coronavirus sind hier gleichwertige Phänomene.

 

Aber es gibt eben noch das andere Gesicht der Natur. Ich nenne es „Beziehungswelt“. Und jetzt wird es für mich richtig abgefahren. Ich möchte die Spielwelt mit dunkler Energie vergleichen. Sie ist überall, aber niemand kann sie fassen. Wir beschreiben die Welt als Basiswelt. Aber unser Erleben bezieht sich auf die Beziehungswelt. Ein Beispiel: Die Würde. Sie ist für unser Zusammenleben und für unser Selbsterleben essentiell. Sie beeinflusst unser Handeln genauso grundlegend wie die Schwerkraft. Wir erleben Würde als ein starkes Prinzip, das außerhalb von uns existiert. Das ist uns wohl angeboren und völlig selbstverständlich. Nur: Die Würde ist nicht aus der Basiswelt abzuleiten. Auch nicht Liebe. In der Basiswelt existiert das schlichtweg nicht. Dummerweise erkennen wir nur die Basiswelt als die „objektive“ Welt an. Alles andere ist irgendwie Wischiwaschi, Privatsache oder eben ein Phänomen unserer Psyche. Wenn Weltbild und Erleben so auseinander fallen, führt das meiner Meinung nach zu einer ganz grundlegenden Einsamkeit, man könnte es „Welteinsamkeit“ nennen. Sie ist uns so selbstverständlich, dass wir sie kaum identifizieren können.

Wie lässt sich denn die Beziehungswelt überhaupt beschreiben? Oder ist sie prinzipiell unergründbar? Und ist es dann nicht doch einfach Glaubenssache? Sollen sich die Religionen darum kümmern?
Gestern bin ich wieder spazieren gegangen, diesmal im Wald. Folgende spekulative Gedanken sind mir da zu diesem Thema gekommen.

  • Die Basiswelt bildet die materielle Grundlage für Die Spielwelt.
    Es ist sozusagen das Klavier, auf dem gespielt wird.
  • Die Beziehungswelt greift nicht in die Basiswelt ein. Zumindest nicht kausal. Leider konnte sie Adolf Hitler keine Herzenswärme einhauchen und sie wird auch das Coronavirus nicht stoppen. Doch halt: vielleicht stimmt das nicht. Vielleicht stoppen die Menschen das Coronavirus, weil sie sich der Beziehungswelt öffnen. Das halte ich sogar für sehr wahrscheinlich.
  •  Die Schönheit und Vielgestaltigkeit der Natur sind nicht nur Ausdruck von Biologie. Die Basiswelt  ist auch hier „nur“ materielle Grundlage. In der Schönheit eines Tigers oder Schmetterlings, oder der Freude eines Hundes zeigt sich die Beziehungswelt .
  • Die Beziehungswelt ist nicht aktiv gerecht, auch nicht moralisch. Sie ist einfach da und versorgt uns, wenn wir es zulassen können. Im Christentum wird es sehr schön als „Wasser des Lebens“ bezeichnet. Zum Wasser muss man hingehen.
  • Die Beziehungswelt lässt sich nicht durch Strategien oder Methoden erschließen. Man kann sich ihr nur mit einer Form von Berührtsein nähern.
  • Die Beziehungswelt ist Kreativität,  Liebe, Sinn und vieles mehr. Sie ist gerichtet, aber auf eine Weise, die für uns wohl nicht zu erschließen ist.
  • Die Beziehungswelt ist nicht Ursache und Wirkung untergeordnet, vielleicht ist sie noch nicht einmal an die Zeit gebunden.
  • Ein Leben nur auf die Basiswelt zu gründen ist unmöglich. Näherungsweise geht das vielleicht in einer klinischen Depression.

Ich glaube, es ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis, das Wirken von Basiswelt und Beziehungswelt in einer Erzählung miteinander zu verbinden und zu versöhnen. Religionen bieten solche Erzählungen. Doch nachdem sich das wissenschaftliche Weltbild im Denken der Menschen so ausgebreitet hat, sind sie für mich zunehmend verlassene Paläste. Ich weiß, es wird immer wieder Anderes behauptet, doch für mich stehen die Erzählungen von Wissenschaft und Religion in schreiendem Widerspruch zueinander. Es bedarf einer Art doppelten Buchführung, einer Art institutionalisierten Gespaltenseins um beides gleichzeitig anzuerkennen. Ist eine andere Erzählung denkbar, die Basiswelt und Beziehungswelt miteinander in Beziehung setzt, ohne unüberbrückbare Widersprüche in Kauf zu nehmen? Ich glaube schon und ich wünsche mir das.  Bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg. Die Menschen sind dazu vielleicht genauso wenig fähig, wie die Liederschreiber im Mittelalter in der Lage waren, sich die Harmonien der Romantik vorzustellen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als diese Fragen in meinem Herzen zu bewegen. Und einen Text wie diesen zu schreiben. Ich würde mich da über Austausch freuen.

Zum Schluss zurück zu Corona. Zu den eindrucksvollen Begleiterscheinungen gehört, dass mich fast alle Menschen grüßen und freundlich ansehen. Sie wirken viel wacher. Ich glaube, dass die existenzielle Dimension der Krise Türen öffnet. Die Menschen (auch ich) können sich und andere besser spüren.
Ich habe den Alltag der Menschen oft als maschinenhaft erlebt. Viele wirkten auf mich eingesperrt in optimierte Abläufe. In dieser Krise löst sich das etwas auf. Das nimmt der Pandemie natürlich nichts von ihrer Tragik. Das existenziell Bedrohliche wirft ein Licht auf die Kraft des Menschlichen, auf Würde, Liebe, Solidarität.  Zum Glück ist das nicht der einzige Zugang zum "Anderen", zur Beziehungswelt . Jegliche Form von Berührtsein kann eine Tür öffnen. Vielleicht ist dieser Zugang  der eigentliche Reichtum, den wir uns auch als Gesellschaft erschließen sollten.


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Kommentare: 1
  • #1

    Andreas Weber (Sonntag, 06 September 2020 20:18)

    Interessanter Text. Die Unterscheidung in Basiswelt und Beziehungswelt will mir nicht recht einleuchten. Der Autor schreibt über Erfahrung. Wir sind wie ein Filter, der einen Anteil aus der Fülle der Erscheinungen wahr nimmt,erfährt, erlebt, zuordnet. Die Wissenschaft versucht, bestimmte Erscheinungen, die wir erfahren, zu messen und in allgemein gültige Formeln zu bringen, es ist der Versuch einer Beschreibung und Definition. Natürlich wird durch wissenschaftliche Methoden nur ein Bruchteil der menschenmöglichen Erfahrungen beschrieben. Sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Wenn Menschen den sichtbaren Teil des Eisbergs für das Ganze halten, ist das für mich ein Armutszeugnis. Ebenso der Versuch, eine sogenannte "Objektivität" herzustellen. Dann haben wir in der Tat "verlassene Paläste" oder klinische Depression. Manches in unserem gesellschaftlichen Geschehen, auch in unserem Miteinander erscheint mir auch tatsächlich inzwischen als armselig und depressiv. Und auch das kann ich nicht objektivieren, sondern mir erscheint es so, ich erfahre es so. Noch ein Wort über die Würde. Warum sollte das ein Prinzip sein, das "außerhalb" existiert ? Ein Gefühl und Bedürfnis für Würde scheint ja in uns zu sein, womöglich angeboren. Im Besten Fall trachten wir danach, versuchen, das was wir unter Würde verstehen, auch zu leben.