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Corona und die Macht der Empfindsamen

Gerade erfuhr ich, dass alle Kindergärten und Schulen in Baden Württemberg in Kürze geschlossen werden. Die Corona-Krise spitzt sich zu. Zuerst einmal muss jetzt dafür gesorgt sein, dass mein Sohn an den Vormittagen betreut wird. Das muss gehen und das wird gehen. Vielleicht liegt auch eine Bereicherung darin, wenn sich die Eltern untereinander organisieren müssen. Aber zum Ernst der Lage. Mein erster Impuls als ich von der Schließung der Kindergärten gehört habe war „Das ist Hysterie“. Das sehe ich jetzt ganz anders.  Die Corona-Krise ist viel ernster als ich bis vor Kurzem gedacht habe. Welche Maßnahmen angemessen sind kann ich schlichtweg nicht beurteilen. Ich vertraue in diesem Punkt einfach der Meinung der Experten. Ich bin jedenfalls tief beeindruckt, welch tiefe Einschnitte in Wirtschaft, Bildung und Sozialleben angesichts der Viruserkrankung möglich sind.  Ich bin auch beeindruckt, wie die Bevölkerung diese Maßnahmen mitträgt.

 

Auf ganz andere Weise bin ich beeindruckt, wenn ich diese Handlungsmacht der Politik vergleiche mit der empörenden Untätigkeit von Deutschland und der EU gegenüber den Flüchtlingen vor und hinter der griechischen Grenze. Ein nicht zu diskutierendes „MUSS“ machte in der Corona-Krise harte Maßnahmen möglich, die in das Herz von Sozial- und Wirtschaftsleben eingreifen. Gegenüber der Menschenwürde, ja sogar den basalen Menschenrechten der Flüchtlinge in Griechenland gab es dieses MUSS anscheinend nicht. Die Große Koalition hat im Dezember den Antrag der Grünen abgelehnt, wenige tausend Kinder aus dem Horrorlager Moria zu befreien (erst jetzt, nachdem der Winter vorbei ist, ist sie doch bereit ein Mini-Kontingent aufzunehmen). Kinder, die grausam zusammen gepfercht sind, die erfrieren, verstummen und den Glauben an die Welt verlieren. Kinder, die schon traumatisiert waren, bevor man sie bei uns im Stich ließ. Aber warum eigentlich nur die Kinder? Den Erwachsenen geht es ja nicht besser, nur weil sie erwachsen sind. Die Begründung, Deutschland wolle keinen Alleingang und es sollten keine Anreize für weitere Flüchtlinge geschaffen werden sind zynisch und zeigen, dass dieses MUSS hier nicht gilt. Wenn ein Virus die Bevölkerung bedroht, dann MUSS es möglich sein, die Rechte der Bürger zu beschneiden. Und wenn Menschen im Verantwortungsbereich der EU unter Bedingungen leben, die in ihrer Unwürdigkeit einem KZ vielleicht gar nicht so unähnlich sind, dann MUSS etwas getan werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Klimawandel. Auch hier vermisse ich dieses MUSS schmerzlich. Auch hier wird verschlafen, vertagt, beruhigt. Und auch hier geht es um Menschenleben.

Warum ist in der Corona-Krise konsequentes Handeln möglich, in anderen existentiellen Krisen aber nicht? Ich weiß es nicht, ich habe aber Vermutungen. Die Corona-Krise zeichnet sich dadurch aus, dass sie räumlich und zeitlich sehr nah ist. Sie kann uns sehr schnell und unmittelbar betreffen. Nichthandeln würde sehr bald fatale Folgen haben – für die gesamte Bevölkerung und ganz sicher auch für die entscheidenden Politiker. Es wäre politischer Selbstmord, nichts zu unternehmen. Bei dem Flüchtlinsgelend und der Klimaerwärmung ist das anders. Da liegt die Notwendigkeit des Handelns nicht so sehr in der politischen Räson, sondern im Vertreten von Werten. Nationen und Staatenverbände haben keine Werte. Nur Menschen haben Werte. Wenn ich mir die Entscheidung der großen Koalition gegen die Aufnahme der Kinder aus Moria anschaue, dann scheint es unter den Menschen, die in Deutschland politische Verantwortung haben eine allgemeine Verrohung zu geben. Wie kann ich mich in so einer Frage einer Parteilinie oder einer außenpolitischen Strategie unterordnen? Wo ist das Fühlen, das Gewissen dieser vielen Menschen? Manchmal denke ich, dass in unserer Kultur Macht und Empfindsamkeit als Sphären gedacht sind, die unvereinbar sind. Das ist fatal. Ich wünsche mir Politiker, die ihr Handeln an ihren persönlichen Werten ausrichten. Auch das macht für mich einen starken Politiker aus. Stattdessen sehe ich Schauspieler. Schachspieler. Kühle Strategen. Wo sind denn die emotionalen Reden für eine klimagerechte Wirtschaft, wo sehe ich die persönliche Ergriffenheit, wenn es um die Elendsten geht? Ich glaube, wir sollten ganz dringend damit anfangen, junge Menschen zu ermutigen, ihre Werte, ihr Fühlen, ihre Empfindsamkeit wertzuschätzen und vor allem, das alles zu bewahren. Wie viele Menschen starten mit Idealismus in ihr Berufsleben und verlieren dann nach und nach im Konkurrenzkampf ihre Empfindsamkeit? Am Ende reihen sie sich ein in die graue Masse der Abgestumpften. Menschen müssen von Anfang an ermutigt werden, ihr Fühlen als Kompetenz, nicht als Schwäche zu betrachten. Wir sollten endlich anfangen, Politiker danach zu wählen und zu beurteilen, ob sie sich ihrem Herzen verpflichtet sehen. Und wir sollten aufhören, Menschen zu bewundern, die sich von nichts etwas anhaben lassen.


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